Pressemitteilung 2021/076 vom

Im Zuge der Demonstrationen in Kolumbien kam es zu Gewalt, die laut Medienberichten bereits mehr als 20 Todesopfer gefordert hat. Droht ein Rückfall in den Bürgerkrieg? Wir haben nachgefragt bei Solveig Richter und Ralf J. Leiteritz. Richter ist Heisenberg-Professorin für Internationale Beziehungen und transnationale Politik an der Universität Leipzig. Sie forscht im Rahmen ihres Heisenberg-Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft umfassend zum Friedensprozess in Kolumbien. Leiteritz ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universidad del Rosario in Bogotá, Kolumbien, und weilt seit September 2019 als Gastwissenschaftler an der Universität Leipzig.

Kolumbien ist in Aufruhr, schreibt die FAZ. Was ist da los?

Solveig Richter: Die Menschen sind zunächst vor allem aus Protest gegen eine von Präsident Duque geplante Steuerreform auf die Straße gegangen, die bei vielen sozial benachteiligten Personen und Gruppen auf heftigen Widerstand stieß. Die Proteste weiteten sich aber schnell aus, denn letztlich kulminierte darin die über Jahre seit der Wahl Duques 2018 angestaute Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung, vor allem auch der jüngeren Generation. Im Zuge der zunächst weitgehend friedlichen Demonstrationen kam es zu Gewalt, die auf Seiten der Protestierenden durch den Einsatz von Polizei und Militär bereits mehr als 20 Todesopfer gefordert haben. Heute findet ein weiterer landesweiter Streiktag statt, und es ist zu befürchten, dass die Situation weiter eskaliert. 

Ralf J. Leiteritz: Das Land ist relativ schlecht durch die Corona-Krise gekommen und diese Unzufriedenheit mit der ökonomischen und sozialen Lage weiter Teile der Bevölkerung knüpft an die großen Protestbewegungen gegen die Regierung des rechtsgerichteten Präsidenten Iván Duque Ende 2019 an. Insofern hat sich der Ärger der Leute nicht nur einfach zeitlich aufgestaut, sondern wurde durch die Pandemie noch potenziert. 

Jahrzehntelang tobte in dem Land ein Bürgerkrieg. Sie, Frau Richter, forschen seit einigen Jahren zum Friedensprozess. Droht ein Rückfall?

Solveig Richter: Man muss ein bisschen unterscheiden zwischen dem gewalttätigen Konflikt mit Gewaltakteuren wie etwa Rebellengruppen, der sich ja eher in den ländlichen Gegenden und Territorien abspielte und abspielt, und den gegenwärtigen gewalttätigen Protesten, die vor allem in den Städten sind. Beides ist aber verbunden: Präsident Duque hat die Regelungen aus dem Friedensvertrag mit der FARC von 2016 nur sehr widerwillig umgesetzt, und damit viele positiven Entwicklungen im ganzen Land ausgebremst. Die Hoffnungen, die viele in den Friedensprozess setzten, haben sich daher nicht erfüllt – viele strukturelle Defizite sind weiterhin da.

Und ganz im Gegenteil: Duque plant gerade etwa, die umstrittene und eigentlich eindeutig durch den Friedensvertrag ausgesetzte Besprühung von Kokafeldern mit dem gefährlichen Glyphosat wieder aufzunehmen. Das lehnt die Bevölkerung weithin ab. Das heißt, rückwärts in die Zukunft ging es leider schon in den letzten zwei, drei Jahren – nicht erst seit den aktuellen Protesten. 

Präsident Duque hat den Plan für Steuererhöhungen zurückgezogen, die Proteste ebben aber nicht ab. Warum?

Ralf J. Leiteritz: Weil die Steuerreform nur das Symptom der aktuellen Krise des politischen Systems Kolumbiens ist. Die Probleme sind grundlegender Natur und lassen sich nicht mehr mit kosmetischen Änderungen entschärfen. Zu nennen wäre da vor allem die hohe Ungleichheit, die ähnlich wie in Chile große Teile der Bevölkerung am eigenen Leib betrifft. Diese sozialen Probleme haben eine ungemeine politische Sprengkraft, auch und gerade in Nach-Bürgerkriegsgesellschaften. Das Konfliktpotential bleibt daher weiterhin hoch.

Solveig Richter: Das Land durchlebt eine tiefe Legitimitätskrise des Staates und seiner Institutionen unter der Regierung Duque. Es prallen zum Teil völlig disparate Vorstellungen und Werte über das gesellschaftliche Zusammenleben aufeinander, die sich kaum zusammenbringen lassen. Viele der Demonstrantinnen und Demonstranten kämpfen also gegen die Regierung ganz grundsätzlich ihre eigene Zukunft in Kolumbien aus. Und man darf nicht vergessen: Die hohe Gewalt durch die Sicherheitskräfte in den letzten Tage mobilisiert zusätzlich viele, die sich nicht als „Terroristen“ durch den Staat stigmatisiert sehen wollen, sondern für ihr legitimes Demonstrationsrecht einstehen. 

Woher kommt die offenbar hohe Gewaltbereitschaft bei der Polizei, aber auch unter Protestierenden?

Ralf J. Leiteritz: Bei der Polizei und dem Militär ist der Kalte Krieg und die damals herrschende Einsatztaktik offensichtlich noch nicht vorbei. Da heißt man sieht dort in jedem Protest einen potenziellen Umsturzversuch der politischen Linken. Auf der anderen Seite fühlen sich die Protestierenden durch Ereignisse in Chile, Peru und Ecuador in den letzten Jahren ermutigt, wo sozialer Protest in vielfältiger Form, auch gepaart mit Gewalt, zu wichtigen politischen Veränderungen geführt hat. 

Wie dürften die kommenden Wochen verlaufen?

Solveig Richter: In einem pessimistischen Szenario dürfte die Lage weiter eskalieren, denn Duque zeigt zumindest Stand heute wenig Neigung, sich auf die Protestierenden einzulassen und vor allem die Sicherheitskräfte wieder unter Kontrolle zu bekommen, trotz Dialogangebot. Das wird also eher beide Seiten radikalisieren. In einem optimistischen Szenario fruchten die Apelle breiter gesellschaftlicher und politischer Akteure nach Deeskalation und einem friedlichen Dialog, etwa auch jener des deutsch-kolumbianischen Friedensinstituts CAPAZ, den ich selber mit unterzeichnet habe. In der Sache müsste sich allerdings die Regierung Duque in ihren Positionen komplett wandeln, um wichtige Forderungen zu erfüllen. Das ist eher unrealistisch, sondern wird wohl erst bei den Wahlen 2022 neu verhandelt. 

Ralf J. Leiteritz: Präsident Duque hat zuletzt zu einem Dialog aller gesellschaftlichen und politischen Gruppen eingeladen, um einen Ausweg aus der aktuellen Situation zu finden, speziell mit Hinblick auf eine neue Steuerreform, die dringender ist denn je. Die Frage ist jedoch, ob alle relevanten Gruppen diese Einladung annehmen werden. Die Polarisierung im Land ist weiterhin sehr hoch und einige Politiker, speziell der ehemalige und wohl auch zukünftige Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro von der politischen Linken, mögen darauf spekulieren, dass die Lage weiter eskaliert, um dann in einem Jahr bei den Wahlen zu siegen.

Ist das ein Thema für Deutschland, für die EU? Sollte es eines sein?

Ralf J. Leiteritz: Deutschland und die EU haben sich sehr für den Friedensprozess in Kolumbien engagiert, auch und gerade mit finanzieller Hilfe. Sie dürfen das Land in der jetzigen Lage nicht unter dem Vorwand allein lassen, dass ja nun Frieden herrschen würde und man sich daher zurückziehen könnte. In Kolumbien leben im Moment rund 1,8 Millionen Flüchtlinge aus dem benachbarten Venezuela. Auch diese Menschen brauchen materielle, nicht nur ideelle Unterstützung aus dem Ausland, damit die soziale Situation in Kolumbien nicht vollends aus dem Ruder läuft.

Solveig Richter: Die wichtigste Rolle spielen zweifelsohne die USA, die letztlich aufgrund der umfassenden finanziellen und materiellen Unterstützung für das Land den größten Einfluss auf die Regierung Duque haben. Aber die Stimme Deutschlands wird gehört, sowohl bei der Regierung als auch bei den Protestierenden. Es sollte alles getan werden, damit es nicht zu weiteren Verletzten und Toten auf beiden Seiten kommt, aber auch die Kolumbianerinnen und Kolumbianer ihr legitimes Recht auf Meinungsäußerung, Kritik und Demonstrationen ausüben können.