Nina Pogrebnaya, Justin Roßdeutscher und Esther Stephan
Einleitung
Jede vierte in Deutschland lebende Person hat einen sogenannten Migrationshintergrund (vgl. Neue Deutsche Medienmacher*innen, 2020). Man könnte also davon ausgehen, dass ein solch großer Anteil der Bevölkerung eine entsprechende Repräsentation in der Gesellschaft erfährt. Vor allem seit 2015, als viele Menschen aus Ländern wie Syrien und Afghanistan nach Deutschland einwanderten, wurde der Ruf nach Integration lauter. Populistische Kräfte schüren bis heute Zweifel und Angst am Thema und befeuern zudem die Debatte immer weiter.
Doch Deutschland ist nicht erst in den letzten fünf Jahren zu einem Land mit Migrationsgeschichte geworden. Schon immer wanderten Menschen ein und aus, sei es durch Krieg oder zur Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Situation. Die Gesellschaft in Deutschland ist also durch Migration geprägt und wird auch weiterhin dadurch beeinflusst. Das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten ist keine Ausnahme, sondern Normalität auf Dauer (Mummendey & Kessler, 2006: 513).
Bereits im Jahr 1948 erklärten die Vereinten Nationen die Chance, sich als Individuum Gehör zu verschaffen, zu einem Menschenrecht. Jede Person der Gesellschaft hat also das Recht darauf, ein Teil der öffentlichen Kommunikation zu werden und ihre Stimme hörbar zu machen. Doch wie sieht die Realität aus? Wird Migrant:innen und ihren Nachkommen die Möglichkeit geboten, ihre Realität präsent zu machen und zu einem Teil der öffentlichen Kommunikation zu werden? Aufgrund des verfassungsrechtlichen Auftrags der öffentlich-rechtlichen Medien wird die Forderung nach Zugangsgerechtigkeit aktuell immer lauter (vgl. Neue Deutsche Medienmacher*innen, 2020). Ein solcher Zugang wäre nicht nur über die Inhalte der Berichterstattung in Medien möglich. Auch als Teil von Redaktionen und Medienunternehmen müssen Migrant:innen und deren Nachkommen die Chance erhalten, sichtbar zu werden und Themen in die Öffentlichkeit zu tragen. Der von der Bundesregierung 2011 aufgestellte Nationale Aktionsplan Integration beinhaltete die folgende Zielsetzung:
Es scheint so, als sei ein Ziel klar gesteckt und die Rolle der Medien für die gesellschaftliche Integration realisiert. Mit diesem Beitrag soll ein genauer Blick darauf geworfen werden, ob dieses Ziel der verstärkten Teilhabe erfüllt wird. Denn Partizipation ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass Positionen und Meinungen in der Gesellschaft eingenommen werden können (Gouma, 2020: 172). Der Fokus liegt dabei auf der Arbeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Unterstützt wurde der vorliegende Beitrag durch Interviews mit dem Soziologen Horst Pöttker, der Leiterin des Radiosenders COSMO Schiwa Schlei und Journalistin Konstantina Vassiliou-Enz von den Neuen Deutschen Medienmacher*innen (NDM).
Postmigrantische Gesellschaft oder Integration
Am 25.02.2021 haben wir mit dem Soziologen und Publizist Horst Pöttker über die Themen des vorliegenden Beitrags gesprochen. Im Telefoninterview hat er seine Sicht der Dinge zum Thema Migration und Medien erläutert. Als erster Aufhänger diente der Begriff der postmigrantischen Gesellschaft. Diesen betrachtet Pöttker mit Zweifel. Deutschland sei ein Land, das durch Migration geprägt wurde und weiterhin geprägt wird. Die genannte Bezeichnung postuliere, dass wir die mit Migration verbundenen Aufgaben bereits hinter uns gelassen hätten. Horst Pöttker bevorzugt den Begriff der Migrationsgesellschaft, denn Migration ist etwas, das „bestimmte Strukturen mit sich bringt und auch hinterlässt, selbst wenn wir keine Migration mehr hätten“. Auf die Frage hin, wie er die Entwicklung der aktuellen Debatte betrachtet und ob ein Ende dieser in Sicht ist, antwortete der Soziologe: „Also auf absehbare Zeit werden Diskussionen über das Migrationsthema, sowie der Migrationsprozess in unserer Gesellschaft nicht beendet sein.“
Vor allem in der deutschen Gesellschaft entdeckt man im Zusammenhang mit dem Thema Migration einen sehr eurozentristischen und ethnisch-nationalen Umgang. Die Autorinnen Hentges und Lösch fordern „eine Strategie, die Gruppen sichtbar macht, etabliert und Anschlussmechanismen schafft“ (2011). Eine durch Diversität geprägte Migrationsgesellschaft müsse in den Mittelpunkt gerückt werden. Auch der Politikwissenschaftler Butterwegge fordert: „Migration muss endlich als gesellschaftliche Normalität, als konstitutiver Bestandteil von Globalisierungsprozessen und als (sozial)politische Gestaltungsaufgabe von höchster Priorität begriffen werden“ (2004: 76).
Für Horst Pöttker stellt sich eine zentrale Frage: „Wie wird aus den Teilen das Ganze?“. Im Integrationsbegriff sieht er das Problem, dass sich eine Vorstellung in der Gesellschaft entwickelte, in der alle Menschen gleich sein müssten. In diesen Erwartungen sieht der Soziologe eine große Gefahr, denn dadurch werde davon ausgegangen, alle Gesellschaftsmitglieder müssten die gleiche Religion, gleiche Überzeugungen und die gleiche Hautfarbe haben. Interkulturelle Integration solle als „Zusammengehörigkeit von Teilen, die sehr verschiedene sein können“ definiert werden. Man solle die Vorstellung, Integration hätte etwas mit Homogenität zu tun, aufgeben, denn eine in der Kindheit angeeignete kulturelle Identität lasse sich nicht austauschen, sondern nur ergänzen und modifizieren (Pöttker, 2017).
Um diese angesprochene Zusammengehörigkeit zu erreichen, bedarf es laut Horst Pöttker zwischen den Individuen dreier Merkmale:
Die Rolle der Medien für die Integration
Niklas Luhmann sagte einst: „Was wir über unsere Gesellschaft wissen, ja über die Welt, in der wir leben, wissen wir durch die Massenmedien.“ (1996: 9). Dieser Satz beschreibt die immens wichtige Aufgabe der Medien für unser Zusammenleben. Inhalte aus Rundfunk und Internet bestimmen darüber, was bedeutsam und diskussionswürdig ist. In der dadurch entstehenden Informationsgesellschaft hängt die soziale Existenz von Minderheiten also wesentlich davon ob, wie diese sich in den Medien präsentieren können. Es entstehen indirekte Erfahrungen mit Mitmenschen (Bonfadelli, 2007: 94). Diese vermittelten Erfahrungen müssen sich schlussfolgernd also unterscheiden, um eine Vielzahl an Meinungen zu ermöglichen. Im Gespräch mit Schiwa Schlei wurde mit Bezug auf die Rolle der Medien folgendes deutlich:
(Video folgt)
Auch Horst Pöttker (2017) ist sich sicher, dass mediale Öffentlichkeit einen Faktor darstellt, der Integration sowohl fördern als auch behindern kann. Es geht dem Soziologen dabei vor allem um die Möglichkeit der Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen an einer öffentlichen Kommunikation. Eine Gefahr bestehe durch die Segregation von Medien, also einem sich verstärkenden individuellen Medienkonsum und einer Polarisierung der Meinungen und Formate (Geisler & Pöttker, 2006).
Im Interview mit Horst Pöttker wurde auch dieses Thema angesprochen. Für ihn ist die Rolle der Medien für den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht zu leugnen. Ohne öffentliche und frei zugängliche Informationen kann kein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen. In Bezug auf das Thema der Integration nimmt der Soziologe Journalist:innen in die Verantwortung. Er sagt, die professionelle Aufgabe bestehe darin, „Zugänglichkeit zu richtigen und wichtigen Informationen für alle Menschen in der Gesellschaft“ zu ermöglichen. Außerdem betont Pöttker die Notwendigkeit, „allen diesen verschiedenen Gruppen, die es in der Gesellschaft gibt, sowohl als Rezipient:innen, als auch als Produzent:innen, Zugang zur Öffentlichkeit“ zu ermöglichen.
Mit einer wachsenden Diversität in Redaktionen flössen automatisch differenzierte Perspektiven in die Berichterstattung ein. Bezüge zu verschiedenen Religionen, Kulturen und Ländern könnten hergestellt werden. Im Umkehrschluss lässt sich festhalten, dass je homogener eine Redaktion aufgestellt ist, desto vorurteilsvoller werden Themen besprochen und von der Gesellschaft aufgenommen (NdM, 2020).
Horst Pöttker sagte dazu im Interview:
Vielfalt im Journalismus
Konstantina Vassiliou-Enz, was bedeutet Vielfalt im Journalismus?
Medien vertreten mit ihrer Berichterstattung die Gesellschaft eines Landes. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk verpflichtet sich mit dem Rundfunkänderungsstaatsvertrag von 2009 dazu, alle gesellschaftlichen Schichten anzusprechen und Teilhabe zu ermöglichen. Mehr als ein Viertel der Menschen in Deutschland sind Migrant:innen oder deren Nachkommen. Um der Aufgabe, einer diversen Berichterstattung nachzukommen, möchten beispielsweise die Neuen Deutschen Medienmacher*innen durchsetzen, dass auch in den Redaktionen der Medienhäuser eine dementsprechend hohe Zahl an Migrant:innen oder deren Nachkommen zu finden sind. Horst Pöttker stellt im Interview klar, dass dies aktuell noch nicht der Fall ist. Seiner Meinung nach sollte der Anteil an migrantischen Journalist:innen in Redaktionen proportional zum Anteil in der Bevölkerung sein. Doch „diesen Zustand haben wir längst nicht erreicht“, sagt der Soziologe. Man solle sich viel mehr Gedanken darüber machen, wie ein höherer Anteil zu erreichen sei, um den Weg für diverse Geschichten in den Medien zu ebnen. Für Konstantina Vassiliou-Enz ist eins klar, wenn es um die Frage der Verantwortlichkeit für steigende Diversität in Redaktionen geht:
Auch Schiwa Schlei, Leiterin des öffentlich-rechtlichen Formats COSMO, sieht klare Vorteile in einer wachsenden Diversität in Redaktionen:
(Video folgt)
Ein postmigrantischer öffentlich-rechtlicher Rundfunk? – Praxis und Geschichte
Mit Beginn der 1960er Jahre haben die öffentlich-rechtlichen Programme angefangen, ein Angebot für Menschen zu machen, die in Deutschland leben, aber nicht Deutsch sprechen. Dieses Programm hat sich damals vor allem an die Menschen gerichtet, die als sogenannte „Gastarbeiter:innen“ in der Bundesrepublik gelebt haben.
Die erste Sendung, die damals gesendet wurde, war Mezz’Ora Italiana. Dieses Format lief damals im Saarländischen Rundfunk, startete bereits 1961 und läuft auch heute noch einmal in der Woche bei Antenne Saar.
An die türkischsprachigen „Gastarbeiter:innen“ richtete sich die Radiosendung Köln Radyosu vom Westdeutschen Rundfunk. Sie lief erstmals 1964 und man kann sie bis heute beim Radiosender COSMO vom WDR hören.
Sendungen wie Mezz’Ora Italiana und Köln Radyosu sollten die „Gastarbeiter:innen“ in ihrer Muttersprache über ihre (vermeintliche) Heimat, als auch über die Bundesrepublik informieren. Sie sollten allerdings nicht explizit integrativ arbeiten (wie es heute im Programmauftrag festgehalten ist), sondern die Menschen auf ihre Rückreise in ihre „Heimatländer“ vorbereiten.
Das änderte sich mit den rassistischen Ausschreitungen 1991 in Hoyerswerda. Damals wurden 32 Menschen verletzt und die Anschläge bildeten den Auftakt zu einer Reihe von Gewalttaten im gesamten Bundesgebiet. Besonders wird an die Verbrechen in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen erinnert.
Nach den Anschlägen machten es sich die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zur Aufgabe, ihr Programm auch inhaltlich integrativer und mit einem Fokus auf „Multikulti“ zu gestalten. Damit sollten sowohl die „Gastarbeiter:innen“, als auch Menschen mit deutscher Muttersprache einen Zugang zueinander finden.
Dieses sogenannte „Ausländerprogramm“ endete zwar im Jahr 2002, vereinzelt wurden aber Sendungen wie Mezz’Ora Italiana und Köln Radyosu in die neuen Sender (die explizit „interkulturell“ sein sollten) integriert. Neue, „interkulturell“ ausgerichtete Sender waren zum Beispiel Funkhaus Europa (heute COSMO) vom Westdeutschen Rundfunk oder Radio Multikulti vom Rundfunk Berlin-Brandenburg.
Und auch nach dem Ende des „Ausländerprogramms“ verbreiten die meisten Sendeanstalten auch heute noch fremdsprachige Formate.
Zum Teil sind das Übersetzungen der deutschen Programme (zum Beispiel bis 2016 eine Übersetzung der Tagesschau in Englisch und Arabisch), aber auch Programme, die sich gezielt an Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund richten (wie zum Beispiel Refugee Radio von COSMO). Die meisten Angebote richten sich allerdings an eine junge Zielgruppe (wie die online-only-Angebote von Funk), oder sind Angebote in Form von Podcasts oder Radio. Das könnte daran liegen, dass diese Angebote günstiger zu produzieren sind. Aber auch daran, dass sie (zum Beispiel bei einem niedrigen Einkommen oder mit einer Sprachbarriere) leichter zu nutzen sind. Schiwa Schlei sagt über den Radiosender COSMO:
(Video folgt)
Ein postmigrantischer öffentlich-rechtlicher Rundfunk? – Spagat zwischen Auftrag und Realität
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland wird zu etwa 80 Prozent von dem Rundfunkbeitrag finanziert. Mit diesen Geldern entsteht eine Verpflichtung zum Gemeinwohl der zahlenden Bevölkerung. In Form eines Programmauftrags müssen öffentlich-rechtliche Sender in Deutschland eine unabhängige Grundversorgung an Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung gewährleisten (Piepenbrink, 2009). Es scheint selbstverständlich, dass dieser Auftrag gegenüber aller in Deutschland lebenden Menschen Gültigkeit besitzt. Jörg Becker (2007) hält fest, dass das nicht der Fall ist. Stattdessen hat die ARD seit 1981 Formate wie Auslandsberichte und Sendungen für Migrant:innen und deren Nachkommen drastisch zurückgefahren. Mit Konstantina Vassiliou-Enz haben wir über die Frage gesprochen, welche Aufgabe der öffentlich-rechtliche Rundfunk verfolgen sollte:
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss es sich laut Konstantina Vassiliou-Enz zur Aufgabe machen, alle Teile der Gesellschaft sowohl in der Berichterstattung als auch in der Produktion von Informationen eine Möglichkeit der Partizipation zu bieten. Paul Mecheril sagte bereits in diesem Kontext: „Migrant:innen können in dieser Perspektive als Akteur:innen gesehen werden, die neues Wissen, Erfahrungen, Sprachen und Perspektiven in unterschiedliche soziale Zusammenhänge einbringen und diese mitgestalten“ (2010: 8). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte also seine Aufgabe wahrnehmen und gegenüber dem deutschen Publikum einen Beitrag zur aktiven Akzeptanz der Migrant:innen und ihrer Nachkommen leisten.
Auch im Interview mit Horst Pöttker wurde nochmals die Relevanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Integration deutlich. Der Soziologe sieht im Programmauftrag einen direkten Auftrag zur Integration von Minderheiten und „deshalb wäre es ganz besonders wichtig, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk eben auch dafür sorgt, dass Migranten und Migrantinnen angemessen proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil bei der Produktion von Öffentlichkeit beteiligt werden.“
Zur praktischen Umsetzung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sagt Schiwa Schlei:
(Video folgt)
Was sagen die Daten?
„Wir fordern Pluralismus und Offenheit in der Gesellschaft. Dann dürfen Redaktionen in ihrer Zusammensetzung nicht wie monolithische Blöcke aussehen.“ - Diese Forderung veröffentlichte der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) 2018 in Form einer Resolution, die von mehr als 200 Delegierten unterschrieben wurde. Eines wird dabei deutlich: Das Problem der Eintönigkeit innerhalb von Redaktionen scheint erkannt worden zu sein. Doch hat sich mit diesem Appell etwas verändert? In diesem Abschnitt soll ein Blick auf Forschungen geworfen werden, die sich mit der Diversität im Journalismus beschäftigt haben.
Auch die Neuen Deutschen Medienmacher*innen (2020) halten es für äußerst relevant, aktuelle Daten zu erheben, um objektiv einschätzen zu können, wie die Lage in den Redaktionen ist. Denn ohne wissenschaftliche Zahlen lässt sich nur schwer beweisen, dass es Nachholbedarf gibt. Horst Pöttker kritisierte, dass es in der Kommunikationswissenschaft ein Missverhältnis gebe. Es fände vor allem inhaltsbezogene Forschung mit Bezug zu Migrant:innen und deren Nachkommen statt. Empirische Analysen zur Entstehung von Aussagen hingegen werden kaum vollzogen und lassen nur ein eingeschränktes Bild über Anteile von Migrant:innen und ihren Nachkommen in Medienredaktionen zu.
Eine der aktuellsten und aussagekräftigsten Studien legten die Neuen Deutschen Medienmacher*innen im Mai 2020 vor. Die Arbeit mit dem Titel „Viel Wille, kein Weg“ versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, wie divers deutsche Redaktionen aufgestellt sind. Auch zwei Jahre nach der DJV-Forderung hat sich die Situation kaum verändert. Die NdM führten qualitative Interviews mit 126 Chefredakteur:innen aus 122 Redaktionen „der reichweitenstärksten regionalen und überregionalen deutschen Medien“. Der Fragebogen umfasste drei Themenblöcke:
- “Fragen zu Einstellungen der Medienverantwortlichen zur gesellschaftlichen Vielfalt und medialen Repräsentation der Migrationshintergrund;
- Fragen zu Inhalten, Zielgruppen und Vielfalt und medialen Repräsentation der Migrationshintergrund;
- Fragen zu Diversity Management, Rekrutierung, Aus- und Weiterbildung.” (S.57)
Die Studie beantwortet nicht die Frage, worüber Medien berichten, sondern konzentriert sich darauf, wer berichtet. Laut der Forschung spiegelt sich Deutschland als Einwanderungsland nicht in den Chefetagen der Redaktionen deutscher Massenmedien wider:
Nur sechs der Befragten hatten einen sogenannten Migrationshintergrund. Von diesen sechs Personen vertritt keine:r eine besonders diskriminierte Gruppe, wie beispielsweise BIPoC oder Muslim:innen (NdM, 2020: S. 3). Obwohl die Mehrheit (2/3) der Befragten sowohl die DJV-Resolution unterstützt hat als auch das Thema Diversität in Redaktionen wichtig findet.
Laut der Befragung müssen die Medienhäuser mithilfe von Journalist:innen mit einem sogenannten Migrationshintergrund Diskriminierung vermeiden und „ein besseres journalistisches Produkt“ erstellen, so die NdM (ebd.).
Eine besondere Rolle spielt die Rekrutierung von potenziellen journalistischen Arbeitskräften. Ohne Pflichtquoten orientieren sich die Medienhäuser ausschließlich an formalen Qualifikationen; interkulturelle Kompetenzen, sowie Herkunft bleiben unbeachtet. Im Interview am 19. Februar erzählte die NdM-Geschäftsführerin Konstantina Vassiliou-Enz, dass der Verein daran arbeitet, ein Handbuch mit Tipps für Redaktionen auszugeben, die mehr Diversität haben möchten. Die Präsentation von dem Diversity-Guide „Wie deutsche Medien mehr Vielfalt schaffen. Handbuch für professionellen Journalismus im Einwanderungsland“ fand Ende März 2021 statt.
Die Verantwortung für die Homogenität in den Redaktionen schieben die Chefredakteur:innen stattdessen auf die Personen mit einem sogenannten Migrationshintergrund selbst, die entweder nicht ausreichende Skills besäßen, oder sich für die journalistische Arbeit nicht interessierten.
Gleichzeitig scheine in den Redaktionen kaum Interesse zu bestehen, dass Daten zur Diversität in den Redaktionen überhaupt erhoben werden. Dadurch gibt es tatsächlich kein umfassendes Bild darüber, wie divers deutsche Redaktionen sind. Auch das problematisieren die Neuen deutschen Medienmacher*innen.
Die erfolgreiche Erhebung bleibt aber realistisch. Noch 2013 hat der SWR eine anonyme Umfrage zum Thema Migrationshintergrund unter eigenen Mitarbeiter:innen durchgeführt. Die Ergebnisse entsprechen fast dem Prozentanteil der Bevölkerung mit einem sogenannten Migrationshintergrund in Deutschland (ca. 25%). Die Daten betreffen jedoch nicht nur Journalist:innen, sondern alle Angestellten.
Die Studie der NdM ist nicht die Einzige, die sich mit Diversität in deutschen Redaktionen beschäftigt. 2017 bewies der Soziologe Horst Pöttker in dem Buch „Migranten als Journalisten“, dass der Anteil sogenannter Migrant:innen in Medienhäusern nicht proportional zum Anteil in der Bevölkerung ist. Der Wissenschaftler arbeitete auch mit anderen Daten: Die explorative Studie von Miltiadis Oulios ergab, dass Journalist:innen mit Migrationshintergrund oft auf Themen wie Migration, Integration oder regionalspezifische Nachrichten festgesetzt sind (2009: 119-144).
Eine andere wichtige Studie beantwortet die Frage, ob Migrant:innen und deren Nachkommen den diversen öffentlich-rechtlichen Rundfunk brauchen. Im Rahmen der Studie „Migranten und Medien“ wurden von ARD und ZDF im Jahr 2011 3000 Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund befragt.
Besonders die jüngeren Generationen schätzten ihre eigenen Sprachkenntnisse als gut oder sehr gut ein. Trotz dieser Zahlen war das Problem der Sprachbarriere 2011 vor allem unter Personen mit türkischer Herkunft groß: Ein Drittel der Befragten waren mit dem eigenen Sprachverständnis unzufrieden und nutzten das Angebot von muttersprachlichen Fernsehprogrammen. 37% der Menschen mit türkischer Herkunft fühlten sich wegen der Sprache von öffentlich-rechtlichen Medien diskriminiert, in anderen Gruppen ist dieser Anteil relativ niedrig (4-8%).
Die Mediennutzung von Migrant:innen und deren Nachkommen unterschied sich kaum im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung. Damit schließen die öffentlich-rechtlichen Medien einen entscheidenden Anteil ihrer Nutzer:innen aus, indem sie diese nicht repräsentieren.
Wird es irgendwann einen postmigrantischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk geben können? Konstantina Vassiliou-Enz ist zuversichtlich:
Quellen
- Becker, J. (2007). Für Vielfalt bei den Migrantenmedien: Zukunftsorientierte Thesen. In: Bonfadelli, H. (Hrsg.) Medien und Migration. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
- Bonfadelli, H. (2007). Medien und Migration. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Boytchev, H., Hortz, C. & Neumüller, M. (2020). Viel Wille, kein Weg (1.Aufl.) Neue Deutsche Medienmacher:innen.
- Butterwegge, C. (2004). Globalisierung, Zuwanderung und Ethnitisierung der sozialen Beziehungen. In: Ottersbach, M. & Yildiz, E. (Hrsg.). Migration in der metropolitanen Gesellschaft. Münster: Lit.
- Geißler, R. & Pöttker, H. (2006). Integration durch Massenmedien. Bielefeld: transcript Verlag.
- Gouma, A. (2020). Migrantische Mehrsprachigkeit und Öffentlichkeit. Wiesbaden: Springer VS.
- Hentges, G. & Lösch, B. (2011). Die Vermessung der sozialen Welt. Wiesbaden: Springer VS.
- Luhmann, N. (1996). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Mecheril, P. (2010). Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In: Mecheril, P., Castro Varela, M., Dirim, I., Kapalka, A. & Melter, C. (Hrsg.): Migrationspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz.
- Mummendey, A. & Kessler, T. (2006). Vorurteile und Beziehungen zwischen sozialen Gruppen. Heidelberg: Springer.
- Oulios, M. (2009). Weshalb gibt es so wenig Journalisten mit Einwanderungshintergrund in deutschen Massenmedien? Eine explorative Studie. In: Geißler, R., Pöttker, H. (Hg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland, Band 2: Forschungsbefunde. Bielefeld: Transcript.
- Piepenbrink, J. (2009). Öffentlich-rechtlicher Rundfunk. [online]. Homepage: Bundeszentrale für politische Bildung. URL: www.bpb.de/apuz/32153/oeffentlich-rechtlicher-rundfunk [Stand 15.05.2006].
- Pöttker, H. (2017). Migranten als Journalisten?. Wiesbaden: Springer VS.