Die soziologische Diagnose Demenz
Die Demenz gilt unter Expertinnen und Experten der Medizin und Gesundheitspolitik als eine Krankheit, die uns im 21. Jahrhundert besonders beschäftigen wird. Die Krankheit stellt die medizinische Wissenschaft bis heute vor Rätsel, während die anspruchsvolle, langdauernde Pflegearbeit die Familienangehörigen, die den Hauptteil der Versorgung übernehmen, an ihre Grenzen bringt. Das Dissertationsprojekt greift den letzteren Punkt auf, wendet jedoch den psychologisch orientierten Belastungsdiskurs soziologisch, indem es mittels Alfred Schütz' Interaktiontheorie untersucht, was in der demenziellen Pflegedyade vor sich geht. Ausgehend vom empirischen Datenmaterial, das Interviews mit pflegenden Angehörigen von Demenzerkrankten umfasst, wird gezeigt, dass die Auflösung von Sinnzusammenhängen und der Verlust der alltagsweltlichen Raum- und Zeiterfahrung, die an Demenzerkrankte typischerweise erleiden, weitreichende Folgen für die Sozialbeziehung haben. Pflegende Angehörige haben es mit Erschütterungen der konstitutiven Erwartungen an die Interaktion zu tun, wie Harold Garfinkel sie beschreibt. Wie die Angehörigen reagieren, welche Deutungsrahmen aktiviert werden und wie sich diese Schemata im Krankheitsverlauf verändern, bilden die Anschlussfragen. Sie werden über die Alltagstheorien von Krankheit und dem Konzept der Identität vertieft untersucht. Die Projektergebnisse laden dazu ein, über die Relation von Bewusstsein und Körper in der Interaktionstheorie zu reflektieren, sowie eine Demenzethik zu entwerfen, die sich nicht in einer Medizinkritik verfängt, sondern das Alltagsverstehen ernst nimmt.
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