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Professor Dr. phil. habil. Lothar Kreiser ist am 15. August 2023 im Alter von 89 Jahren verstorben. Lothar wurde am 19. Juni 1934 in Arnsdorf bei Dresden geboren. Sein Weg führte von einer Werkzeugmacherlehre (1949-52) im Geburtsort, dem Abitur an der ABF und dem Studium der Philosophie mit Mathematik im Nebenfach an der Karl-Marx-Universität Leipzig (KMU Leipzig, 1952-59) zunächst zu einer Aspirantur am Lehrstuhl für Philosophische Fragen der Naturwissenschaften an der HUB Berlin (1959-62). Danach kehrte er endgültig nach Leipzig zurück und wurde als C4-Professor für Klassische Logik und Logische Semantik am vom ihm 1990 initiierten Institut für Logik und Wissenschaftstheorie am 1. August 1999 emeritiert. Sein universitäres Leben hat er mit bewundernswerter Intensität vor allem der Logik gewidmet. Dies gilt sowohl für das Fach selbst als auch für seine kreativen wissenschaftspolitischen Aktivitäten vor und nach der Wiedervereinigung.

Lothars wissenschaftlichen Verdienste um die Logik sind vielgestaltig. Seine Hauptinteressensgebiete benennt er selbst: Klassische und nichtklassische Logik sowie Geschichte der Logik. Gemeinsam mit dem tschechischen Logiker Karel Berka gab er 1971 die „Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik“ heraus. Die 4. Auflage dieser trefflich aufbereiteten Anthologie von 1986 wurde bei de Gruyter 2022 neu aufgelegt. Zu den prägendsten Erfahrungen meiner Promotionszeit gehört die mehrjährige Mitarbeit am Band „Nichtklassische Logik: eine Einführung“, den Lothar 1988 gemeinsam mit den Leipziger Kollegen Siegfried Gottwald und Werner Stelzner herausgab. Wie ein roter Faden zog sich die Beschäftigung mit einem der Mitbegründer der modernen Logik – Gottlob Frege – durch Lothars Schaffen. Sie erwuchs aus seiner Zusammenarbeit mit Karel Berka 1968/9 und mündete in das kenntnisreiche Kompendium „Gottlob Frege. Leben – Werk – Zeit“, welches 2001 bei Meiner erschien. Mit Freude habe ich Lothar bei der Gestaltung der Endfassung mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er war die ostdeutsche Autorität bei der Herausgabe der Schriften Freges – insbesondere derjenigen aus dem Nachlass. Gemeinsam verfassten wir 1999 den Lehrbrief „Freges Philosophie der Mathematik“ für die FernUniversität Hagen. Er ging einen eigenen Weg bei seinen Untersuchungen zum Verhältnis von Logik und Philosophie: 1986 erschien die Monografie „Deutung und Bedeutung. Zur logischen Semantik philosophischer Terminologie“. Ihr folgten die Arbeiten „Logisch-hermeneutische Analyse philosophischer Texte“ (1989) und „Logische Hermeneutik und Rhetorik“ (1993).

Lothar verfolgte seine wissenschaftspolitische Vision seit 1963 als Institutionalisierung der Logik an der Leipziger Universität und bis zur Wiedervereinigung in der gesamten DDR. Seine Erfolge unter schwierigen politischen Bedingungen sind beeindruckend. Ab 1965 engagierte er sich als Mitglied in verschiedenen Kommissionen, Räten und Beiräten mehrerer Ministerien, der Pädagogischen Akademie und der mathematischen Gesellschaft der DDR. 1983 erfolgte die Gründung des Kooperationsrates Logik an der KMU Leipzig. 1984 wurde Lothar dessen Leiter und etablierte die Jahresschrift „Untersuchungen zur Logik und zur Methodologie“, die 1989 weit mehr als 500 Abonnementen hatte. Das Programm, Logik als fakultatives Unterrichtsfach an Erweiterten Oberschulen der DDR einzuführen, wurde 1988 in Leipzig, Dresden und Altenburg erfolgreich getestet. Im Zuge der Abwicklung vieler Sektionen der KMU Leipzig während des Prozesses der Wiedervereinigung gelang es Lothar, den Lehrstuhlbereich Logik in das eigenständige Institut für Logik und Wissenschaftstheorie zu überführen. In dieser komplizierten Übergangszeit fungierte er von 1989 bis 1993 sowohl als Prodekan bzw. Dekan der Fakultät für Philosophie und Geschichtswissenschaft als auch als Mitglied des Senats der KMU bzw. der Universität Leipzig. Er agierte von 1992 bis 1998 als Vertreter der Fakultät im philosophischen Fakultätentag, als Mitglied des Wissenschaftsrates der BRD, der Bibliothekskommission der DFG, der DAAD-Auswahlkommission „Neue Länder“ sowie der wissenschaftlichen Kommission zum Programm Stiftungsprofessuren für die neuen Länder beim Stifterverband. 1995 erfolgte die Zuwahl als ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, wo er von 2001 bis 2003 Sekretar der Philologisch-historischen Klasse war. Auf Lothars Anregung hin konnte ich in der Akademie zwischen 2016 und 2018 eine ganze Reihe interdisziplinärer Veranstaltungen zum Rahmenthema „Logik – Musik – Sprache“ durchführen.

Von 1995 bis zu seiner Emeritierung war ich sein Mitarbeiter. Dies ermöglichte mir nach meiner Abwicklung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1991 und der sich anschließenden Wanderschaft mit Haltepunkten an den Universitäten in Wuppertal, Konstanz, Bloomington/Indiana und Jena an der Universität Leipzig zu habilitieren. Es gehört zu der von ihm selbst empfundenen Tragik, dass das Institut für Logik und Wissenschaftstheorie an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie nur bis 2008 Bestand hatte. Ungeachtet dessen ist unter der Beteiligung vieler Akteure 2009 im Leipziger Universitätsverlag seine höchst informative Rückschau „Logik und Logiker in der DDR. Eine Wissenschaft im Aufbruch“ erschienen.

Auch die Tatsache, dass er die Entstehung der Romanbiografie „Gottlob Frege. Der Aristoteles aus Mecklenburg“ bis zuletzt mit großem Interesse begleitet hat, führt mir und wohl allen die ihn kannten vor Augen, wie sehr wir Lothar mit seinen vielfältigen Kenntnissen und Erfahrungen bereits jetzt vermissen. Im kommenden Jahr wäre er 90 Jahre alt geworden. Dies ist Anlass für uns, ihn mit einer wissenschaftlichen Veranstaltung zu würdigen. 2008 erschien sein Buch „Die Vielfalt des Logischen“. Der Titel sei uns Programm.

 

Leipzig im Oktober 2023, Prof. Dr. phil. habil. Ingolf Max